Thema des Monats Februar 2022: Der Leidensweg eines russlanddeutschen Jungen während des Zweiten Weltkrieges - eine eindrucksvolle Geschichte eines jungen Menschen - Fluchtursachen verhindern und sich für Menschen vor Ort einsetzen

Helmut Kieß mit seiner Ehefrau Lydia
Helmut Kieß mit seiner Ehefrau Lydia

Der Autor des Artikels, Helmut Kieß, ist 1976 mit seiner Familie nach vielen Anträgen auf Ausreise nach Wolfsburg gekommen und hat dies nicht bereut. Die Familie Kieß gehörte zu den ersten russlanddeutschen Familien hier. Er lebt seit fünf Jahrzehnten in Fallersleben und habt im Volkswagenwerk gearbeitet. Bei vielen Aktionen zum Einleben von Spätaussiedlern hat er mit vielen anderen Engagierten segensreich mitgewirkt, so zum Beispiel im Arbeitskreis für Spätaussiedlerfragen, beim Chor der Deutschen aus Russland und der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Er ist ein profunder Kenner der Geschichte der Russlanddeutschen. Mit dem CVJM Wolfsburg verbinden ihn enge Kontakte - besonders beim LSB-Projekt "Sport mit Aussiedlern" (jetzt "Integration durch Sport") und bei der Fahrradsponsorenrundfahrt für Projekte für Kinder und Jugendliche. Der CVJM und das Wolfsburger Diakonische Werk sind 1991 mit der Goldplakette für vorbildliche Integration von Spätaussiedlern durch die Bundesregierung ausgezeichnet worden. Helmut Kieß hat auch viel zu dieser Auszeichnung beigetragen.

 

Auf diesem Internetauftritt sind zahlreiche Artikel und Veröffentlichungen zum Einlebungsprozess von Neubürgerinnen und Neubürgern. Empfehlenswert ist zum Beispiel die Dokumentation zum Wettbewerb der Bundesregierung "Sport mit Aussiedlern und Einheimischen - von den Anfängen bis zur Goldplakette" hier klicken. Ausstellung in der Bürgerhalle: "Deutsche aus Russland: Geschichte und Gegenwart" - Landsmannschaft der Deutschen aus Russland - Eröffnung - CVJM Wolfsburg seit über drei Jahrzehnten bei Integration aktiv. Hier klicken

 

Die Leiden der Russlanddeutschen begannen schon nach der Oktoberrevolution und setzten sich den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts fort. Wichtig ist auch, dass sich die Leiden der Deutschstämmigen und anderer Volksgruppen während und nach dem Zweiten Weltkrieg auch im Zusammenhang mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht 1941 und dem Leiden der sowjetischen Bevölkerung gesehen werden muss. Dies sehen wir in den heutigen Flüchtlingszügen wieder. Und es wird auch in Zukunft leider so sein. Deshalb ist es wicht, dass wir schon vorher uns mit Missständen in der Welt rechtzeitg auseinandersetzen.

 

Ich bin 1943 in Klein Glückstal, im Gebiet Odessa, in der damaligen Sowjetunion geboren worden. Unsere deutsch-stämmige Familie, wie viele tausende Landsleute, musste 1944 die Flucht in Richtung Westen antreten. Wir sind mit Pferd und Wagen durch Rumänien, Serbien, Ungarn bis in den Warthegau (Polen – damals aber durch die deutsche Armee erobertes Gebiet) gekommen und von dort weiter bis nach Thüringen. Wir waren sogenannte Heimkehrer. Bei der Flucht sind mein Opa und Bruder Erwin verstorben.  Mein Vater wurde in die deutsche Wehrmacht eingezogen. Nach Kriegende 1945 wurde unsere Familie, Oma, meine Mutter und meine 2 Geschwistern, mit vielen anderen Landsleute, zurück in die Sowjetunion/Russland, von den Russen, in die Stadt Uwa in die Udmurtische ASSR, deportiert. Dort sind wir in ein Zwangsarbeitslager in Perwomeisk gekommen. Es war ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Die Gefangenen wurden bei der Torfförderung eingesetzt waren. Am zweiten Tag wurde vom Kommandanten den Gefangenen vermeldet, dass „sie hier her als Arbeitskraft und auf ewige Zeit gebracht wurden“ – für immer also. Das Verlassen des Lagers ohne Erlaubnis war strengstens verboten. Bei schwerer Arbeit bekamen die Gefangenen bei Erfüllung der Norm 800 Gramm Brot und bei leichter Arbeit nur die Hälfte. Bei der schlechten Ernährung, bei der Kälte und der schweren körperlichen Arbeit und der seelischen Belastung, starben viele Gefangene vor Hunger und Erschöpfung.

 

Als ich das Leben bewusster wahrnehmen konnte, waren die Zeiten schon erträglicher – die sogenannte Kommandatur war 1955 beendet. An einige Begebenheiten kann ich mich noch als Kind gut erinnern. Zum Beispiel mein Onkel Rudolf war Schuster. Ich ging gerne zu ihm in die Schusterei.  Ich versuchte ihm zu helfen, den Nähfaden mit Pech einprägen, Holznägel zu spalten oder ihm sonst zur Hand zu gehen. Eines Morgens kam ich in die Schusterei. Dort stand eine Blechdose, in der mit Kleie und Wasser Klebstoff angerührt war, der beim Schustern verwendet wurde. In der Nacht haben auch Mäuse und Ratten daraus gefressen. Ich musste wahrscheinlich so einen Hunger gehabt haben, dass ich den Inhalt der Blechdose hastig verschlungen hatte. In dem Moment sagte Onkel Rudolf zu mir, „gib mir bitte die Blechdose mit der Kleie rüber“. Ich stand da und wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Er schaute mich und die leere Dose an, dabei wischte ich noch mein Mund ab. Da liefen dem Onkel  die Tränen  über die Wange aus Mitleid. 

 

Oder an die Torfförderung. Der nass gestochene Torf wurde auf dem Feld ausgelegt und musste von oben trocknen und dann gewendet werden. Diese Arbeit mussten hauptsächlich Kinder ab zehn Jahre verrichten. Jedes Kind bekam ein Feld mit ausgelegten Torfstücken. Beim Anheben, wenn die obere getrocknete Kruste sehr trocken war, konnte man sich die kleinen Finger verletzen.  Was noch schlimmer war, war die Plage von Moskitos und Stechmücken. Mit dreckigen Händen vom Torf, versuchten wir diese vom Gesicht zu wischen.  So hatten wir mit Torf und Blut verschmierte Gesichter. Es war eine Sklavenarbeit. 

 

Der Chor der Deutschen aus Russland mit Helmut Kieß beim Start zur CVJM-Fahrradsponsorenrundfahrt für Projekte für junge Menschen 2015
Der Chor der Deutschen aus Russland mit Helmut Kieß beim Start zur CVJM-Fahrradsponsorenrundfahrt für Projekte für junge Menschen 2015

 Helmut Kieß im Zeitzeugen-Portal der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bei youtube

 

Helmut Kieß: Erzwungene Rückkehr

Der Zweite Weltkrieg war beendet. Aufgrund ihrer Volksangehörigkeit wurde Familie Kieß von den sowjetischen Besatzern zwangsumgesiedelt. Für die Schwarzmeerdeutschen ging es erst nach Halle und anschließend bis nach Kasachstan

 https://www.youtube.com/watch?v=sp5W09_U4Q4

 

 

 Helmut Kieß: Unter Vorurteilen leiden

Helmut Kieß war als Schwarzmeerdeutscher in der Sowjetunion häufig Diskriminierungen ausgesetzt.

 https://www.youtube.com/watch?v=WFxGsHtfOQc

 

Helmut Kieß: Spätes Wiedersehen

1976 erhält der Schwarzmeerdeutschen Helmut Kieß die Ausreisegenehmigung für die Bundesrepublik. Nach fast drei Jahrzehnten trifft er im Grenzdurchgangslager Friedland wieder auf seinen Vater.

https://www.youtube.com/watch?v=7R6NpuWXAHE

 

Helmut Kieß: Freiheit in Friedland

Der Schwarzmeerdeutsche Helmut Kieß beschreibt, wie befreiend er die Ankunft im Grenzdurchgangslager Friedland empfand.

https://www.youtube.com/watch?v=8b2yEJ7jHyw