Thema des Monats November 2017: Deutschstämmige Spätaussiedler in Wolfsburg - Herkunft - Integration - Perspektiven - ehemaliger Diakonie-Pastor Arnulf Baumann beschreibt ihre Lebenswelt - wegweisende Impulse bei ihrem Ein-lebungsprozess - Goldplakette der Bundesregierung - "aus dem Leben von Wolfsburg nicht mehr weg zu denken"

Autor Arnulf Baumann und der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Gespräch über Deutschstämmige in Wolfsburg
Autor Arnulf Baumann und der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Gespräch über Deutschstämmige in Wolfsburg

Die Wahlen für die Parlamente sind gelaufen. Deshalb jetzt das Thema des Monats über „deutschstämmige Aussiedlerinnen und Aussiedler“, die ja in den letzten Monaten in vielen Munden waren. Im März 2017 waren sie schon einmal Thema – die Familie Ida und Robert Fischer sind vor 50 Jahren  nach Wolfsburg gekommen (hier klicken). Der Autor des Artikels der ehemalige Diakonie-Pastor Arnulf Baumann des Diakonischen Werkes Wolfsburg e.V. ist profunder Kenner der Thematik und vom damaligen niedersächsischen Staatssekretär für Europaangelegenheiten Frank Ebisch mit dem Bundesverdienstkreuz für diese Arbeit ausgezeichnet worden. Arnulf Baumann ist selbst Bessarabiendeutscher. Besonders das Projekt „Sport mit Aussiedlern und Einheimischen“ des CVJM Wolfsburg mit der Diakonie-Spätaussiedlerhilfe erlangte Aufsehen und Anerkennung in Deutschland und im organisierten Sport und hat viele Impulse zum Programm „Integration durch Sport“ (damals „Sport mit Aussiedlern“) des Deutschen Olympischen Sportbundes (hier klicken) beigetragen und war auch beim Experte-Hearing 1989 des Deutschen Sportbundes und des Bundesministeriums des Innern in Frankfurt/Main vertreten. 1991 wurde das integrative Sportprojekt mit der Goldplakette der Bundesregierung für vorbildliche Integration von Spätaussiedlern ausgezeichnet.

Goldplakette durch die Bundesregierung für die vorbildliche Integegration von Spätaussiedlern durch die Bundestagspräsidentin Dr. Rita Süßmuth 1991
Goldplakette durch die Bundesregierung für die vorbildliche Integegration von Spätaussiedlern durch die Bundestagspräsidentin Dr. Rita Süßmuth 1991

Wieso gibt es in Russland Deutsche?

 

Die Handels-beziehungen zwischen Deutschland und Russland waren seit dem Mittelalter intensiv. In den größeren Städten bildeten sich Handelsniederlassungen und es bildeten sich Handwerker-ansiedlungen. Die vielen deutschen Lehnwörter in der russischen Sprache erinnern bis heute daran. Zarin Katharina die Große schlug 1763 ein neues Kapitel auf, indem sie an der Wolga Siedlungen anlegen ließ, die überwiegend von Deutschen besiedelt wurden Deutschland besiedelt wurden. Ihre Nachfolger setzten diese Siedlungspolitik im gesamten Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres fort. Die deutschen „Kolonisten“ brachten neue Produktionsweisen ins Land und wurden als eine Art „Entwicklungshelfer“ geachtet. Als Folge des Ersten Weltkriegs hatte sich jedoch eine feindselige Stimmung gegenüber den Deutschen entwickelt. Erst recht nach der Oktoberrevolution von 1917 standen den in Russland lebenden Deutschen schwere Verfolgungen bevor, weil viele von ihnen als Wohlhabende enteignet, ihre Schulen und Kirchen geschlossen wurden. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 richtete sich die Wut des Machthabers Stalin besonders gegen die Deutschen im eigenen Lande. Sie wurden - obwohl sie nichts mit dem Hitler-Reich zu tun hatten - nach Sibirien, Kasachstan und ans Eismeer deportiert und dort zur Zwangsarbeit unter schwersten Bedingungen verpflichtet. Erst ab 1955 wurden die Lebensbedingungen etwas gelockert. Die Russlanddeutschen mussten ertragen, was eigentlich den Deutschen in Deutschland zugedacht war.

Ausstellung im Rathaus über Spätaussiedler
Ausstellung im Rathaus über Spätaussiedler

Warum sind deutsche Aussiedler nach Wolfsburg gekommen?

 

Das hat mit der Entwicklung des Zweiten Weltkriegs zu tun. Weite Gebiete im Süden der Sowjetunion waren zunächst von deutschen Truppen besetzt. Als die „Ostfront“ immer weitere nach Westen zurückwich, flüchteten die dort lebenden Deutschen nach Westen. Hier wurden sie nach Kriegsende von der Sowjetunion als Sowjetbürger registriert und - auch von den westlichen Besatzungsmächten - an die Sowjetbehörden ausgeliefert, die sie in Zwangsarbeitslager einwiesen.

 

Einzelnen Russlanddeutschen war es aber gelungen, sich der Deportation in die Sowjetunion zu entziehen und im Westen wie andere Flüchtlinge auch Fuß zu fassen. Ich erinnere mich an Philipp Kammerer, der als Wehrmachtssoldat der Deportation entgangen war. Er stammte aus dem Ort Neudorf im Gebiet von Odessa. Es gelang ihm, Familienmitglieder in den Lagern der Sowjetunion ausfindig zu machen und auf dem Weg der „Familienzusammenführung“ nach Deutschland zu holen, so dass nach und nach die Dorfgemeinschaft seines Heimatortes in Wolfsburg wieder zusammen fand. Andere Überlebende taten es ihm gleich. Wolfsburg war eine Stadt der Flüchtlinge, unter denen sich auch einige wenige Russlanddeutsche befanden.

 

Ähnlich wird es Robert Fischer ergangen sein, der vor 50 Jahren unter den ersten war, die nach Wolfsburg kamen.  „Familienzusammenführung“ war fast das einzige Argument, das die Sowjetbehörden gegenüber den dort lebenden Deutschen gelten ließen. Mit der Zeit bildeten sich auch Wege heraus, auf denen man leichter aus der Sowjetunion entkommen konnte. Es sprach sich herum, dass die Estnische Sowjetrepublik im Nordwesten und die Moldawische Sowjetrepublik im Südwesten großzügiger gegenüber Ausreisewünschen verfuhren als andere Sowjetrepubliken - bis auch diese Schlupflöcher gestopft wurden. Es bedurfte meist einer ganzen Reihe von Ausreiseanträgen, bis endlich die Genehmigung erteilt wurde. 

 

Bei der ersten Generation der Spätaussiedler waren es nicht nur die extrem schlechten Lebensbedingungen in der Sowjetunion, die die Menschen zur Ausreise drängten, sondern vor allem der Wunsch, als Deutsche unter Deutschen zu leben, den ständigen Anfeindungen und Demütigungen zu entgehen und die eigene Sprache bewahren zu können, was angesichts massiven Mangels an deutschem Sprachunterricht immer schwieriger geworden war.

 

Übrigens kamen Spätaussiedler nicht nur aus der Sowjetunion. Die größten anderen Gruppen waren die aus Oberschlesien und Ostpreußen (Masuren) in Polen Stammenden und die Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben aus Rumänien. Nach dem Ende des Ceausescu-Regimes in Rumänien, das Ausreisen nur gegen Bezahlung horrender Summen zuließ, sind im Jahre 1990 binnen eines halben Jahres fast 90 Prozent der dort lebenden Deutschen nach Deutschland ausgereist, viele auch nach Wolfsburg.

 

In den siebziger Jahren kamen viele Spätaussiedler nach Wolfsburg, da es in Westhagen freie Wohnungen und im Volkswagenwerk Arbeitskräfte gesucht wurden.

Ausstellung im Rathaus über Spätaussiedler
Ausstellung im Rathaus über Spätaussiedler

Aus welchen Staaten kamen die Aussiedler und wie viele Aussiedler gibt es heute in Wolfsburg?

 

Mitte der Siebzigerjahre wuchs die Zahl der in Wolfsburg eintreffenden Aussiedler stark an, zunächst auf um die Fünfhundert im Jahr, dann auf über Tausend. Sie kamen aus allen Gegenden der Sowjetunion, wohin sie deportiert worden oder später hingezogen waren, vorwiegend aber aus Sibirien, Kasachstan und den Sowjetrepubliken Mittelasiens. Viele hatten sich den Dialekt ihrer Heimat bewahrt - Hessisch bei den Wolgadeutschen, Schwäbisch, Pfälzerisch und Plattdeutsch bei den Schwarzmeerdeutschen. Weil die Jüngeren keinen deutschen Sprachunterricht mehr erlebt hatten, waren sie immer mehr zur russischen Sprache übergegangen, was hierzulande oft nicht verstanden wurde, weil man wenig über die Lebensbedingungen dieser Menschen wusste. Im Laufe der Jahre kamen auch immer mehr Menschen mit Ehepartnern anderer Nationalität, die sich mit dem Erwerb deutscher Sprachkenntnisse dann auch immer schwerer taten. Unter den später Gekommenen hat deshalb auch die Anhänglichkeit an russische Kultur und Sprache zugenommen, was sich an den „Salatschüsseln“ zum Empfang russischsprachiger Fernsehprogramme zeigt.

 

Die Stadt Wolfsburg führt keine Statistik über die Zahl der hier lebenden Spätaussiedler mehr. Im Laufe der Jahre sind viele weggezogen, andere zugezogen. Man kann jedoch davon ausgehen, dass in Wolfsburg etwa 30 Prozent der Bevölkerung aus der früheren Sowjetunion, aus Polen und Rumänien stammen stammen. Das ist eine beachtliche Zahl, die allerdings in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung tritt, wenn man von der Westhagener Ortsbürgermeisterin Ludmilla Neuwirth absieht. In der Sowjetunion galt für Deutsche die Regel: Ja nicht auffallen! Wer als Deutscher erkennbar wird, hat Nachteile zu erwarten. Andererseits haben Spätaussiedler  Beachtliches geleistet, vor allem im Hausbau. Mit enormen Eigenleistungen und mit Hilfe ihrer Familien haben sie in den Ortsteilen und in der Umgebung stattliche Häuser gebaut, die sich sehen lassen können. Politisch dürften sie meist konservativ eingestellt sein; die ihnen oft nachgesagte Nähe zu rechtsextremen Positionen ist höchstens ein Randphänomen.

Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Parlamentarischer Stadtssekretär und Bundestagsabgeordneter Dr. Horst Waffenschmidt, zu Besuch in Wolfsburg-Westhagen im Jugendtreff Hütten.
Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Parlamentarischer Stadtssekretär und Bundestagsabgeordneter Dr. Horst Waffenschmidt, zu Besuch in Wolfsburg-Westhagen im Jugendtreff Hütten.

Gab es Probleme beim Einleben dieser Neubürgerinnen und Neubürger?

 

Natürlich gab es die, wie immer, wenn Menschen aus ganz anderen Lebens-verhältnissen zu uns kommen. Die Spätaussiedler konnten zwar schnell deutsche Staatsbürger werden. Aber damit waren ihre Probleme noch längst nicht gelöst. Das Wohnungsproblem schien anfangs, als die Zugangszahlen zunahmen, gut lösbar zu sein. In Westhagen standen eine ganze Anzahl von Wohnungen leer, die einmal mit Mitteln zur Förderung großer Familien gebaut waren. Die Spätaussiedler hatten anfangs oft große Familien. Als die großen Wohnungen belegt waren, entwickelte sich eine Wohnungsnot in Wolfsburg. In den Neunzigerjahren mussten zeitweise über 2000 Spätaussiedler in Notunterkünften untergebracht werden. Außerdem wurde Westhagen binnen kurzer Zeit zu einem stark von Aussiedlern geprägten Stadtteil, was auch Probleme verursachte. Das hat sich inzwischen durch Wegzüge und Zuzüge stark verändert, hängt aber dem Stadtteil immer noch an.

 

Probleme gab es auch im Berufsleben. Das VW-Werk hat im Laufe der Zeit sehr viele von ihnen übernommen, aber nicht kontinuierlich.Bei Aussiedlern mit qualifizierten Berufen dauerte es oft Jahre, bis ihre Berufsabschlüsse anerkannt waren; nicht wenige gaben vorher auf. Für die Kinder gab es erhebliche Integrationsprobleme in den Schulen und im Alltag, die nur nach und nach bewältigt werden konnten. Und natürlich dauerte es seine Zeit, bis die Alltagsprobleme einigermaßen gelöst waren.

Was wurde getan, um den Einlebungsprozess der Aussiedler zu verbessern?

 

Hier muss zunächst der Stadt Wolfsburg mit ihren verschiedenen Ämtern ein großes Lob ausgesprochen werden. Sie zeigten sich offen für die Neubürger und halfen in vielerlei Hinsicht: Ausländeramt, Schulbehörde, Jugendamt, Wohnungsamt, Volkshochschule und weitere haben - von Ausnahmen abgesehen - in vielfältiger Weise den Prozess gefördert. Einrichtungen wie Arbeitsamt und Gesundheitsamt kamen hinzu. Aber auch die freien Wohlfahrtsverbände haben die Aussiedler gefördert, vor allem Diakonie und Caritas. Im Diakonischen Werk waren zeitweise um die zwanzig Mitarbeiter damit beschäftigt, den Aussiedlern beizustehen. Schon im Jahr 1977 wurde ein „Arbeitskreis für Spätaussiedlerfragen“ unter meiner Leitung ins Leben gerufen, der nach und nach alle mit Aussiedlerproblemen beschäftigten Stellen umfasste, als eine Art „Parlament der Aussiedler“, in dem neu auftretende Probleme besprochen und auf kurzen Wegen zur Lösung gebracht werden konnten, zum Beispiel bei der Schaffung von Notunterkünften, bei der Einrichtung eines zeitweiligen Sonderkindergartens für Aussiedlerkinder oder der Schaffung und dem Ausbau des Jugendtreffs „Hütten“ am Dresdner Ring in Westhagen. 

 

Groß war auch das Engagement von Vereinen wie dem Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM), der sich besonders auf dem Gebiet der Sportförderung engagierte. Es zeigte sich schnell, dass junge Leute durch die Teilnahme am Sportbetrieb besonders leicht zu integrieren waren. Dabei kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Diakonie und CVJM, verkörpert in der Person von Manfred Wille, der in beiden Bereichen engagiert war. Das wurde auch außerhalb Wolfsburgs erkannt und gewürdigt: 1991 erhielt die Spätaussiedlerhilfe des Diakonischen Werkes in Verbindung mit dem CVJM die goldene Plakette der Bundesregierung für die vorbildliche Integration von Spätaussiedlern und 1997 mit dem Arbeitsamt die Silberplakette. 

 

Aus der Zusammenarbeit im „Arbeitskreis für Spätaussiedlerfragen“ erwuchs auch ein Buch in der Reihe „Texte zur Geschichte Wolfsburgs“ des damaligen Stadtarchivs unter dem Titel „Spätaussiedler in Wolfsburg“, das in zwei Auflagen 1988 und 1990 unter der Herausgeberschaft von Arnulf Baumann, Hanns Piwczyk und Manfred Wille im Rahmen der Texte zur Geschichte Wolfsburgs in einer Auflagenhöhe von jeweils 1000 Exemplaten erschien und über alle einschlägigen Fragen informiert.

 

Den Hauptanteil an dem Erfolg der Spätaussiedlerintegration in Wolfsburg haben aber die Spätaussiedler selbst. Sie erwiesen sich als fleißige und vielfach aktive Neubürgerinnen und Neubürger, die durch ihre Berufstätigkeit und Teilhabe am Leben der Stadt einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Stadt geleistet haben. Besonders hervorzuheben ist ihr Beitrag zum kirchlichen Leben. In vielen Kirchengemeinden sind sie ein belebendes und beständiges Element geworden: Das Kirchengebäude mit der höchsten Platzzahl in Wolfsburg ist das weitgehend in Eigenleistung erbaute der Immanuel-Gemeinde am Dresdener Ring in Westhagen. 

 

Nach fünfzig Jahren Zuzug von russlanddeutschen (und anderen) Spätausssiedlern in Wolfsburg kann mit Fug und Recht gesagt werden: Diese Bevölkerungsgruppe ist weitgehend integriert; sie leistet einen wichtigen Beitrag zum Leben der Stadt und ist nicht mehr aus ihr wegzudenken.